- Polen: Der Weg zur parlamentarischen Demokratie
- Polen: Der Weg zur parlamentarischen DemokratieNach drastischen Preiserhöhungen wurde Polen im Sommer 1980 von einer landesweiten Streikbewegung erfasst. Nachdem 17000 Arbeiter der Danziger Leninwerft in den Ausstand getreten waren, legten auch die Beschäftigten in den anderen Küstenstädten, im oberschlesischen Industrierevier und in den großen Kombinaten des Landes innerhalb weniger Tage die Arbeit nieder. Ein überbetriebliches Streikkomitee unter Führung des Mitglieds der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung, des Elektrikers Lech Wałesa, wurde beauftragt, die Forderungen der Arbeiter gegenüber der Regierung zu vertreten. Die Vereinbarungen, die am 30. August in Stettin, tags darauf in Danzig — von dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Mieczysław Jagielski und Wałesa — sowie am 2. September 1980 zwischen der Regierung und den oberschlesischen Bergarbeitern in Jastrzębie unterzeichnet wurden, dokumentierten ein weitgehendes Einlenken der Staatsmacht: Neue, unabhängige und sich selbst verwaltende Gewerkschaften wurden anerkannt, ferner das Streikrecht sowie der Zugang zu den Massenmedien eingeräumt und Verbesserungen im sozialen Bereich in Aussicht gestellt.Von der Solidarność zum Kriegsrecht von 1981Nach diesem Einlenken der Staatsmacht konstituierte sich noch im September desselben Jahres die unabhängige Gewerkschaftsorganisation Solidarność (Solidarität) und wählte Lech Wałęsa zu ihrem Vorsitzenden. Sodann wurde mit der staatlichen Anerkennung dieser von der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR) unabhängigen und selbst verwalteten Gewerkschaft am 24. Oktober 1980 der entscheidende Schritt zur Preisgabe des Organisationsmonopols über die Arbeiterschaft getan. Innerhalb weniger Wochen verlor die PZPR die direkte Kontrolle über mehr als 90 Prozent der organisierten Arbeiter und damit ihre Legitimationsbasis als führende Kraft beim Aufbau des Sozialismus in Polen. Im November 1980 waren von den 16 Millionen Werktätigen Polens inzwischen rund 10 Millionen der Solidarność beigetreten. Unter den Mitgliedern befanden sich auch über eine Million Mitglieder der PZPR. Der Erfolg der neuen Gewerkschaftsbewegung wurde durch die Lähmung des alten Partei- und Staatsapparats entschieden gefördert. Zwar war Anfang September 1980 Parteichef Edward Gierek durch Stanislaw Kania abgelöst und aus den Reihen der Partei eine Erneuerung gefordert worden, aber weder PZPR noch Regierung konnten fortan ein überzeugendes Reformprogramm entwickeln. Ministerpräsident Józef Pinkowski, erst im August ernannt, trat schon im Februar 1981 zurück. Sein Nachfolger wurde General Wojciech Jaruzelski, stellvertretender Ministerpräsident der als liberal geltende Mieczysław Rakowski.Der Mordanschlag auf Papst Johannes Paul II. in Rom, der Tod des Primas von Polen und Erzbischofs von Warschau-Gnesen Stefan Kardinal Wyszyński und ein Warnbrief der sowjetischen Parteiführung an die Führung der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei führten seit Frühsommer des Jahres 1981 zu einer weiteren Destabilisierung der Lage. Ein Jahr nach der Unterzeichnung der Vereinbarungen von Danzig, Stettin und Jastrzębie trat am 5. September 1981 in Danzig der erste Landeskongress der Solidarność zusammen. Mit einer Aufsehen erregenden »Botschaft an die Arbeiter Osteuropas« und der Forderung nach freien Parlamentswahlen mit unabhängigen Kandidaten hatte eine neue kritische Phase in den Beziehungen zwischen Solidarność und Polnischer Vereinigter Arbeiterpartei begonnen.Im Oktober 1981 übernahm Jaruzelski auch das Amt des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der PZPR. Immer offener drohte die Parteiführung nun mit einem gesetzlichen Streikverbot. Das politische Klima verschärfte sich in den Novemberwochen zusehends. Im Dezember kündigte die Gewerkschaftsführung in Danzig an, sie werde für den Fall, dass der Regierung in der für den 15.und 16. Dezember einberufenen Sitzung des Parlaments (Sejm) Sondervollmachten erteilt würden, einen nationalen Protesttag veranstalten. Gleichzeitig verlangte sie eine Volksabstimmung über das Vertrauen in die Regierung innerhalb der nächsten zwei Monate. Am 13. Dezember 1981 verhängte General Jaruzelski über Polen das Kriegsrecht, um damit eine vermeintlich drohende Invasion sowjetischer Truppen zu verhindern, und setzte einen von ihm geleiteten Militärrat der Nationalen Errettung (WRON) ein. Wałesa und andere Mitglieder der Solidarność sowie eine große Zahl von Intellektuellen und Aktivisten der Gewerkschaft und anderer Verbände wurden interniert, aber auch ehemalige Staats- und Parteifunktionäre, unter anderem der Exparteisekretär Gierek. In einer Rundfunkansprache rechtfertigte Jaruzelski die Verhängung des Kriegsrechts und die damit verbundenen Maßnahmen mit Umsturzplänen der Solidarność, deren Verwirklichung, wie er erklärte, »Anarchie, Willkür und Chaos« sowie einen Bürgerkrieg heraufbeschworen hätte.Keine Normalisierung: Die Jahre 1982 bis 1987Auch nach der Aufhebung des Kriegsrechts im Juli 1983 blieb die Position Jaruzelskis unangetastet. Seine Macht als Erster Parteisekretär (1981—89) und Ministerpräsident (1981—85) wie auch als Vorsitzender des Staatsrats und damit formelles Staatsoberhaupt (1985—89) konnte von keinem Konkurrenten infrage gestellt werden. Groß waren die Vollmachten für die Sondereinheiten der Miliz und den Sicherheitsdienst. Die Umstände der Entführung und Ermordung des oppositionellen Priesters Jerzy Popiełuszko im Herbst 1984 führten dazu, dass Jaruzelski danach selbst die oberste Verantwortung und Kontrolle über den Sicherheitsapparat übernahm. Der Prozess gegen die Mörder wurde in Polen zu einer eindrucksvollen Demonstration der gestiegenen Macht der öffentlichen Meinung.Die polnische Regierung hatte im Februar 1982 eine Wirtschafts- und Preisreform eingeleitet, die aber nicht zu einer spürbaren Verbesserung der wirtschaftlichen Lage führte. Die meisten Arbeiter waren von Anfang an skeptisch gegenüber den Erfolgsaussichten einer Wirtschaftspolitik ohne Dialog mit unabhängigen Gewerkschaftern und boykottierten durch ihre Passivität die Umsetzung der Reform — mit der Verabschiedung eines neuen Gewerkschaftsgesetzes am 8. Oktober 1982 wurde daraufhin die Solidarność verboten. Neue Gewerkschaften, auf Betriebsebene von der PZPR ins Leben gerufen, suchten nach einem Profil, das ihre Unabhängigkeit von Partei und Betriebsleitung unterstreichen sollte, und übten vehement Kritik an der staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Damit wurden auch sie praktisch zu Gegnern der polnischen Wirtschaftsreform. Angesichts der Einschränkungen politischer, gewerkschaftlicher, wissenschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Freiheiten blieb die katholische Kirche die einzige Institution, die einem breiten Spektrum politischer Aktivitäten Raum gewähren konnte.Jaruzelski hatte bis zum X. Parteitag der PZPR im Juni/Juli 1986 seine Position gegenüber innerparteilichen Gegnern seines »mittleren Kurses« in der Innenpolitik ausgebaut. Der Parteitag sprach sich für eine umfassende politische Amnestie aus. Politische Opposition sollte nicht grundsätzlich verboten sein, sich aber in den von der Partei vorgegebenen Formen äußern. Diese um Ausgleich bedachte Politik fand ihren Niederschlag in der überraschenden Freilassung aller politischen Gefangenen. Noch im Dezember desselben Jahres berief Jaruzelski einen »Konsultativrat beim Vorsitzenden des Staatsrats« ein. Darunter waren auch Persönlichkeiten, die von der demokratischen Opposition respektiert wurden, wenngleich sie von dieser kein Mandat besaßen. Dabei wirkte sich der Amtsantritt Michail Gorbatschows positiv auf Polen aus. Lech Wałesa forderte nun Reformen nach sowjetischem Vorbild. Doch das von der Regierung vorgestellte Programm wirtschaftlicher und politischer Reformen wurde in einem Referendum am 29. November 1987 von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt. Nach dieser politischen Niederlage sowie neuen Streiks im Frühjahr und Sommer 1988 setzte sich in der Warschauer Führung die Einsicht durch, dass ohne direkte Einbeziehung der demokratischen Oppositionsbewegung kein Ausweg aus der schweren Wirtschafts- und Vertrauenskrise zu finden war.Vom »Runden Tisch« zur parlamentarischen DemokratieEnde August 1988 kam es zur ersten Begegnung zwischen dem inzwischen schon legendären Gewerkschaftsführer Wałesa und Innenminister Czesław Kiszczak. Überraschend war dieser einem Angebot der Opposition gefolgt, das den Vorschlag für Gespräche am »Runden Tisch« zwischen Regierung und Opposition enthielt. Doch nach der Regierungsübernahme durch Mieczysław Rakowski im September 1988 drohten die Vorbereitungen für den Runden Tisch zu scheitern. Die neue Regierung wollte sich auf eine radikale Wirtschaftsreform konzentrieren und zeigte wenig Bereitschaft, vordringlich die Frage des gewerkschaftlichen Pluralismus zu behandeln. Der Meinungsumschwung kam unmittelbar nach einem Fernsehduell zwischen dem Vorsitzenden des offiziellen Gewerkschaftsbundes OPZZ, dem Politbüromitglied Alfred Miodowicz, und Wałesa am 30. November 1988, das Letzterer für sich entschied. Nach innerparteilichen Auseinandersetzungen fand am 6. Februar 1989 das erste Treffen am Runden Tisch statt. 32 Vertreter der PZPR, der Blockparteien und der staatlichen Gewerkschaften sowie 25 Vertreter der Opposition nahmen als Verhandlungspartner teil. Bis zum 5. April wurde über einen »historischen Kompromiss« verhandelt, der das Machtmonopol der PZPR endgültig beseitigen sollte.Das Abschlusskommuniqué des Runden Tisches umfasste alle Bereiche des öffentlichen Lebens. Das Protokoll über politische Reformen sah die schrittweise Einführung des Prinzips der vollen Volkssouveränität vor. Das im Juni neu zu wählende Parlament wurde darauf verpflichtet, eine neue demokratische Verfassung und ein neues demokratisches Wahlrecht auszuarbeiten. Das Protokoll über den Gewerkschaftspluralismus bekannte sich zu den Gesellschaftlichen Vereinbarungen von Ende August/Anfang September 1980, zur allgemeinen Deklaration der Menschenrechte und zur Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO). Das Protokoll zur Wirtschafts- und Sozialpolitik sah vor: Verbesserung der Marktversorgung sowie der Lebensbedingungen der Bevölkerung, innere und später auch äußere Konvertibilität des Złoty, Kopplung der Löhne an die Inflation mit 80-prozentigem Inflationsausgleich, Einschränkung der Arbeitsplatzgarantie, Entwicklung der Marktwirtschaft, verfassungsmäßige Garantie der staatlichen, genossenschaftlichen und privaten Eigentumsformen und eine Neuregelung des Schuldendienstes. Mit der Anerkennung des Mehrparteiensystems, des Prinzips freier Wahlen und der parlamentarischen Demokratie, des Gewerkschaftspluralismus, der Unabhängigkeit der Gerichte, der weltanschaulichen Neutralität des Staates und des Erziehungssystems sowie der Marktwirtschaft befand sich Polen nun in einer Phase permanenter Umwälzung, in deren Verlauf die bisher regierenden Kommunisten innerhalb von zwei bis vier Jahren die Macht abgeben sollten.Das Wahlvolk beschleunigte am 4. Juni 1989 und in den Stichwahlen am 18. Juni jedoch unerwartet den Systemwandel. Die Freiheit der Wahl war durch eine am Runden Tisch vereinbarte Mandatsaufteilung eingeschränkt worden, die allerdings nur für die Parlamentswahlen im Juni 1989 gelten sollte. Danach entfielen aufgrund festgesetzter Quotierung 65 Prozent der Sitze im Sejm auf die bisherige Regierungskoalition. Die Wahlen zum neu geschaffenen Senat (100 Sitze), einer Art Länderkammer (Woiwodschaftskammer), waren jedoch völlig frei.Pluralisierung des politischen Spektrums und liberale WirtschaftspolitikBei den ersten »halbfreien Wahlen« nach dem Zweiten Weltkrieg eroberte Solidarność sämtliche 161 Sitze (35 Prozent) des Sejm, über die frei entschieden werden konnte. Auf die bisherige Regierungskoalition aus der Arbeiterpartei (PZPR) sowie auf Bauernpartei (PSL) und Demokratische Partei (SD) kamen insgesamt 299 Sitze. Im Senat entfielen auf das Bürgerkomitee 99 der 100 Sitze. Über das Ausmaß der Niederlage waren die bisher regierenden Kommunisten völlig überrascht. Jaruzelski musste eingestehen: »Die führende Rolle der PZPR, rechnerisch verstanden, ist Geschichte.« Wie knapp die Mehrheitsverhältnisse geworden waren, verdeutlichte die Präsidentschaftswahl: Jaruzelski wurde am 19. Juli 1989 mit nur einer Stimme Mehrheit zum Staatsoberhaupt gewählt. Um »Präsident aller Polen« zu sein, gab er nach seiner Wahl alle Parteiämter auf. Der ursprünglich mit der Regierungsbildung beauftragte ehemalige Innenminister Kiszczak brachte keine Regierung mehr zustande. Daraufhin wurde der vom Bürgerkomitee, der PSL und SD vorgeschlagene katholische Publizist und Solidarność-Berater Tadeusz Mazowiecki am 24. August mit überwältigender Mehrheit zum Ministerpräsidenten gewählt. Am 13. September 1989 stellte er sein Kabinett mit Ministern aus Bürgerkomitee, PSL, SD sowie vier PZPR-Ministern (Inneres, Verteidigung, Außenhandel, Transport) vor. Die für die Machtverteilung entscheidenden Schlüsselministerien Inneres und Verteidigung wurden nach einer Übergangszeit im Juli 1990 von Nichtkommunisten übernommen. Es war das erklärte Ziel der Regierung Mazowiecki, die Grundlagen für einen demokratischen Rechtsstaat und die Marktwirtschaft zu schaffen. Aus dem Staatsnamen wurde durch eine Verfassungsänderung noch im Jahre 1989 die Bezeichnung »Volksrepublik« gestrichen, ebenso der Führungsanspruch der Kommunistischen Partei.Nach der Regierungsübernahme ergriff der neue Finanzminister und stellvertretende Ministerpräsident Leszek Balcerowicz erste einschneidende Maßnahmen zur Einführung der Marktwirtschaft. Entgegen den widersprüchlichen Ergebnissen des Runden Tisches zu Wirtschaftsfragen forcierte er eine drastische Stabilitätspolitik zur Bekämpfung der Hyperinflation und entschied sich für eine Politik des raschen Übergangs in die Marktwirtschaft. Anfang 1990 setzte eine durchgreifende Liberalisierung der Preise ein, verknüpft mit einer Liberalisierung des Außenhandels. Doch die negativen Effekte der Übergangsrezession wurden schon bald erkennbar. Der drastische Rückgang der Industrieproduktion, der Reallöhne und die beginnende Arbeitslosigkeit ließen die Unterstützung für die Regierung Mazowiecki bröckeln und rückten die wirtschafts- und finanzpolitische »Schocktherapie« ins Zwielicht. Der Gewerkschaftsvorsitzende Wałesa forderte eine Beschleunigung der politischen Reformen und eine Korrektur der liberalen Wirtschaftspolitik. Nun begann der lang andauernde »Krieg an der Spitze« der Solidarność-Elite: Der WaEęsa-Flügel, der eine rasche Parteienbildung befürwortete, rief die Mitte-Rechts-Partei »Zentrumsallianz« (PC) ins Leben. Der Mazowiecki-Flügel in der Solidarność gründete daraufhin die »Bürgerbewegung Demokratische Aktion« (ROAD).Ursprünglich sollte die Zeit der vom Runden Tisch eingeleiteten begrenzten Demokratisierung als Erstes durch tatsächlich freie Parlamentswahlen beendet werden. Als Schlusspunkt dieses Demokratisierungsprozesses war dann die Wahl eines neuen Staatspräsidenten vorgesehen. Doch mit zunehmender Polarisierung im politischen Spektrum drängte es vor allem Lech Wałesa ins Zentrum der Macht. So wurden die Präsidentschaftswahlen vorverlegt, nachdem die Amtszeit des amtierenden Präsidenten Jaruzelski auf dessen Bittschreiben durch das Parlament verkürzt worden war. Er wolle »die natürlichen politischen Prozesse nicht verzögern«, ließ er verlauten. Eigentlich galten Wałesa und Mazowiecki als einzige aussichtsreiche Präsidentschaftsanwärter, bis unter den vier weiteren Kandidaten der bis dahin gänzlich unbekannte Auslandspole Stanislaw Tyminski in der Gunst der Wähler rasch aufholte. Im ersten Wahlgang am 25. November erhielt Ministerpräsident Mazowiecki bei einer Wahlbeteiligung von etwa 60 Prozent nur 18 Prozent der abgegebenen Stimmen, Wałesa knapp 40 und Tymiński 23 Prozent. Der überraschend hohe Stimmenanteil für Tymiński, der vor allem in ländlichen und kleinstädtischen Gebieten, in wirtschaftlichen Krisenregionen und bei jungen Menschen mit seinen Versprechungen Anklang fand, wurde als Niederlage für das gesamte neue Establishment interpretiert. Im zweiten Wahlgang am 9. Dezember siegte Wałesa erwartungsgemäß mit 74 Prozent der Stimmen. Als Konsequenz aus seinem schlechten Abschneiden bei den Präsidentschaftswahlen erklärte Mazowiecki seinen Rücktritt als Ministerpräsident und kündigte die Gründung einer eigenen Partei unter dem Namen »Demokratische Union« (UD) an.Die innere Entwicklung unter Präsident Lech WałesaNach der Vereidigung zum ersten frei gewählten Präsidenten der Republik Polen beauftragte Wałesa den jungen Danziger Unternehmer Jan Krzysztof Bielecki mit der Regierungsbildung. Der zweite aus der Solidarność-Bewegung kommende Regierungschef Polens, zugleich Gründungsmitglied des Liberal-Demokratischen Kongresses (KLD), wurde am 4. Januar 1991 mit großer Mehrheit zum Ministerpräsidenten gewählt. Die wichtigen Ressorts in seiner Regierung blieben bei den bisherigen Amtsinhabern. Ursprünglich sollte Bielecki nur ein Übergangskabinett bilden. Denn noch immer standen freie und demokratische Parlamentswahlen aus.Nach langen politischen Auseinandersetzungen wurde ein Wahlrecht für die Parlamentswahlen verabschiedet, das das Verhältniswahlrecht mit Merkmalen des Persönlichkeitswahlrechts verband und sich als eines der weltweit kompliziertesten entpuppte. Der Urnengang fand am 27. Oktober 1991 statt. Dabei war die Zersplitterung des neuen Sejm durch die Wahlordnung vorprogrammiert: Von den 60 landesweit, regional oder lokal angetretenen Parteien oder Listenverbindungen zogen 29 ins Parlament ein, davon elf Parteien mit nur einem Abgeordneten. Der Sejm wählte den Rechtsanwalt und konservativen Politiker Jan Olszewski zum Chef einer Mitte-Rechts-Regierung. Ende Mai 1992 wurde dem Parlament eine Entschließung zur Veröffentlichung der Geheimdienstakten vorgelegt, die dem politischen Missbrauch, der Erpressung und der Denunziation Tür und Tor öffnete. Daraufhin bat Präsident Wałesa den Sejm um Abwahl des Premiers, die Anfang Juni 1992 erfolgte. Nach dem erfolglosen Versuch des jungen Bauernpolitikers Waldemar Pawlak, eine Regierung zu bilden, stand ab Juli 1992 die Posener Juristin Hanna Suchocka aus der Demokratischen Union (UD) an der Spitze einer Koalitionsregierung aus mehreren Solidarność-Nachfolgeparteien ohne Beteiligung der Solidarność-Gewerkschaftsfraktion. Auch die Regierung Suchocka verfügte über keine parlamentarische Mehrheit. Im Januar 1993 verabschiedete das Parlament ein restriktives Abtreibungsgesetz, das die Gesellschaft polarisierte und den Zusammenhalt der Regierungskoalition stark strapazierte. Schließlich scheiterte Suchocka wie ihre Vorgänger im Amt am parteipolitisch stark zersplitterten Sejm und an den unterschiedlichen Interessen der eigenen Koalition: Mit einer Stimme Mehrheit wurde Ende Mai 1993 ein Misstrauensantrag der Solidarność-Gewerkschaftsfraktion angenommen. Präsident Lech Wałesa löste daraufhin das Parlament auf und schrieb Neuwahlen zum 19. September 1993 aus, die auf der Grundlage eines neuen Wahlgesetzes stattfinden sollten. Es wurde eine Fünfprozentklausel (bzw. Achtprozentklausel für Wahlbündnisse) eingeführt. Der große Sieger der Herbstwahlen war das »Bündnis der Demokratischen Linken« (SLD). Als zweiter Sieger ging die Bauernpartei (PSL) aus den Parlamentswahlen hervor.Die neue Regierungskoalition aus SLD und PSL verfügte im Sejm aufgrund des neuen Wahlrechts über eine Mehrheit von knapp zwei Dritteln der Sitze, nämlich 303 von 460 Abgeordneten. Aber auch bei den Wahlen zum Senat, der nach dem Mehrheitswahlrecht gewählt wurde, errangen SLD und PSL immerhin 73 von 100 Sitzen. Die beabsichtigte disziplinierende Wirkung des Wahlrechts wurde zwar erzielt: Statt 29 Parteien und Gruppen waren nur noch sechs Parteien und vier Abgeordnete der deutschen Minderheit im Parlament vertreten. Aber die Solidarność-Gewerkschaft und die Mitte-Rechts-Parteien aus der Solidarność-Tradition konnten wegen ihrer Zersplitterung nun nicht mehr ins Parlament einziehen, obwohl sie insgesamt einen Stimmenanteil von über 20 Prozent auf sich vereinigten (ohne Liberale). Der PSL-SLD-Koalitionsregierung stand Ministerpräsident Waldemar Pawlak vor. Größere Konflikte innerhalb dieses Bündnisses entzündeten sich schon vor Abschluss der Koalitionsverhandlungen an den wirtschafts- und finanzpolitischen Grundsatzfragen. Der Agrarlobbyismus der Bauernpartei blockierte nicht nur eine Strukturreformpolitik in der Landwirtschaft, die PSL verzögerte auch monatelang das Programm der Massenprivatisierung (PPP), das von der wirtschaftspolitisch liberal gestimmten SLD favorisiert wurde. Wirtschaftspolitisch agierte die Regierung Pawlak zögerlich — sie profitierte von den Finanz- und Wirtschaftsreformen des inzwischen als Vater des »polnischen Wirtschaftswunders« apostrophierten Leszek Balcerowicz. Seine »Schocktherapie« hatte die Ausrichtung Polens auf die Marktwirtschaft immerhin nicht mehr revidierbar gemacht. Das beachtliche Wirtschaftswachstum seit 1992 wurde von der Privatwirtschaft getragen.Eng verbunden mit den Auseinandersetzungen um die Kompetenzen des Präsidenten blieb die Diskussion um die neue Verfassung des Landes. Die wachsenden Konflikte zwischen den Koalitionspartnern SLD und PSL wegen personalpolitischer Differenzen, der Verlust der Reformdynamik, zum Beispiel durch Verzögerungen bei der Privatisierung, Staatsinterventionismus und den Abbruch der Verwaltungsreform, wie auch der Ansehensverlust von Ministerpräsident Pawlak veranlassten Präsident Wałesa zu einer direkten Intervention, aufgrund deren sich die regierende Koalition von Pawlak löste und am 1. März 1995 der Sejmmarschall (Parlamentspräsident) Józef Oleksy (SLD) zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Danach dominierte der Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen die polnische Innenpolitik. Als größter Herausforderer Wałesas hatte sich der SLD-Vorsitzende Aleksander Kwaśniewski profiliert, der sich in einer Stichwahl am 19. November 1995 gegen WaEęsa durchsetzte.Auf dem Weg nach EuropaDie Mehrheit der Bevölkerung wählte 15 Jahre nach Gründung der Gewerkschaftsbewegung Solidarność ihren einst charismatischen Wortführer für ein neues Polen ab — nun auf der Basis der gewaltigen gesellschaftlichen und politischen Veränderungen, die diese Bewegung zu Beginn der Achtzigerjahre angestoßen hatte. Unbestritten bleibt ihre Ausstrahlung auf die Nachbarstaaten, die sich in den Jahren 1989/90 ihrerseits demokratisierten und Polen so die Chance für eine außenpolitische Neuorientierung gaben. In der Außenpolitik gewann nach Abschluss des deutsch-polnischen »Vertrags über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit« von 1991 die Entwicklung ei- nes französisch-deutsch-polnischen »Dreiecks« eine Schlüsselrolle. Polen wurde am 26. November 1991 Mitglied des Europarats. Dem Ziel einer vollständigen Integration in die Sicherheitsarchitektur und die Wirtschaftsstrukturen der westlichen Staatenwelt standen nach dem 1991 vereinbarten Abzug der sowjetischen Truppen Bemühungen Polens um gute Beziehungen zu seinen östlichen Nachbarn auf der Basis von Nachbarschaftsverträgen und bilateralen Sicherheitsvereinbarungen gegenüber. Am 1. Februar 1994 trat der Assoziationsvertrag (Europa-Abkommen) mit der EU in Kraft; einen Tag später schloss sich Polen dem NATO-Programm »Partnerschaft für den Frieden« an. Im April desselben Jahres stellte es den Antrag auf Aufnahme in die EU, die sich die polnische Regierung bald nach der Jahrtausendwende erhofft, während das Land bereits im März 1999 Mitglied der NATO wurde.Dr. Dieter BingenGrundlegende Informationen finden Sie unter:Sowjetunion: Die UdSSR und der OstblockPolen: Neue StaatlichkeitHolzer, Jerzy: »Solidarität«. Die Geschichte einer freien Gewerkschaft in Polen, herausgegeben von Hans Henning Hahn. Aus dem Polnischen. München 1985.Krzemiński, Adam: Polen im 20. Jahrhundert. Ein historischer Essay. München 21998.Länderbericht Polen, herausgegeben von Wilhelm Wöhlke. Bonn 1991.Luks, Leonid: Katholizismus und politische Macht im kommunistischen Polen. 1945-1989. Die Anatomie einer Befreiung. Köln u. a.1993.Rakowski, Mieczysław F.: Es begann in Polen. Der Anfang vom Ende des Ostblocks. Aus dem Polnischen. Hamburg 1995.
Universal-Lexikon. 2012.